Europameisterschaft 2020 erst 2021. Wegen Corona. Das weiss jeder. 60 Jahre Europameisterschaft. Das wissen wenige.
Der Fernsehsender Arte hat am Sonntag von 13 bis 21 Uhr alle neun Sinfonien von Ludwig van Beethoven ausgestrahlt, jede aus einer anderen Stadt. Damit sollte der Europagedanke gestärkt werden. Die Musik : Völker umbindend, Grenzen auflösend. Der Grund : Vor 77 Jahren hatte mit dem « Débarquement », dem Sturm der Alierten auf Frankreich die Vertreibung und Vernichtung des Hitler-Regimes begonnen. « Freude, schöner Götterfunken ! »
Michel Platini hat, als er noch in Amt und Würden war, Jahre voraus eine ähnliche Idee gehabt. Er schrieb dem Fußball eine ähnliche allumgreifende Rolle zu wie der Musik. Und da die erste Europameisterschaft 1960 ausgetragen wurde, regte er an, zum 60-jährigen Jubiläum die EM in « ganz » Europa austragen zu lassen. Es wurden immerhin zwölf Länder daraus.
Rückblende : Bei der Gründung 1960 nahmen 17 Länder teil. Die Sowjetunion gewann ; Spanien hatte im Viertelfinale aus politischen Gründen auf die Spiele gegen den späteren Sieger verzichtet. Deutschland, Weltmeister 54, hielt den Wettbewerb für unbedeutend. Und nahm nicht teil. Die Endrunde wurde mit vier Mannschaften ausgetragen.
1964 starteten bereits 26 Mannschaften, nur, dass in der Vorrunde schon Griechenland gegen Albanien nicht antrat. Die DDR scheiterte im Achtelfinale an Ungarn. Die BRD nahm erneut nicht teil.
1968 waren es 31 Mannschaften, aber die erstmals teilnehmende BRD scheiterte in den Qualifikationsspielen zur Endphase durch eines der blamabelsten Ergebnisse der Länderspielgeschichte : 0:0 in Albanien ! Günter Netzer beschwerte sich danach, dass er nach der Ankunft in Tirana barfuß durch ein Desinfektionsbecken habe waten müssen. Die DDR scheiterte auch in der Gruppenphase.
Ab 1972 wurde die Europameisterschaft dann zu einer Domäne der (West)deutschen. Beim 3:0 im Finale in Brüssel gegen die Sowjetunion kommandierte Netzer in den letzten zwei Minuten : « Alles über rechts ! Alles über rechts ! » Dort lag der Spieler-, in diesem Fall Fluchttunnel, und Netzer befürchtete einen Platzsturm der überwiegen deutschen Fans unter den 40.000 Zuschauern. Er behielt Recht, aber es wurde, trotz des identischen Stadions, kein Heysel (39 Tote beim Europapokalfinale 1985).
1976 hätte Deutschland wieder Europameister werden können, wenn nicht beim Elfmeterschießen gegen die Tschechoslowakei Uli Hoeneß einen Strafstoß in den Belgrader Sternenhimmel gejagt hätte, so dass der Ball heute noch unauffindbar im Orbit kursiert. Panenka hingegen « erfand » dort einen Elfmeter, der heute noch seinen Namen trägt : Gemächlich in die Mitte schießen, weil der Torwart in eine Ecke taucht – und die Mitte ist dann, gemächlich, frei.
1980 war es dann das Ungeheuer Hrubesch, dass Deutschland mit seinen beiden Toren gegen Belgien den zweiten EM-Titel bescherte. Erstmals wurde die Endrunde mit acht Mannschaften (2 Gruppen à 4) ausgetragen, um die vier Halbfinalisten zu ermitteln.
1984 in Frankreich scheiterte Deutschland in der Gruppenphase. In Erinnerung bleiben eher die neun Tore in fünf Spielen von Michel Platini, dem späteren Europameister (erster internationaler Fußball-Titel der « Grande Nation »).
1988 : EM in Deutschland. Deutschland verliert das Halbfinale in Hamburg gegen die Niederlande 1:2. Ronald Koeman wischt sich nach dem Trikottausch noch auf dem Platz seinen Arsch mit dem Trikot von Olaf Thon ab. Die Oranje-Fans gröhlen : « Oma, wir haben dein Fahrrad wieder » - Allusion auf den 2. Weltkrieg, als Nazis in Holland Fahrräder stahlen, um schneller über Belgien nach Frankreich einfallen zu können. Im Finale gegen die Sowjetunion schießt van Basten ein unglaubliches Traumtor (YouTube!).
1992 scheint Dänemark nur ein Zwerg zu sein. Die « Strandurlauber » waren erst zehn Tage vor EM-Start zugelassen worden wegen der Kriegswirren im eigentlich qualifizierten Jugoslawien. Vom Strand zum Titel – so geht es auch. 2:0 wurden die Deutschen düpiert.
Seitdem war das Renommé von Bundestrainer Berti Vogts, dem Nachfolger des « Kaisers », angekratzt. Da half auch der dritte Titelgewinn 1996 in England nichts mehr. (einziges « Golden Goal » in der Europapokal-Endspielgeschichte durch Oliver Bierhoff gegen Tschechien). Die Endrunde war auf 16 aufgestockt worden. Die Bedeutung der EM als Weltmeisterschaft ohne Südamerika nahm an Fahrt auf.
2000 unter Erich Ribbeck – in Holland und Belgien, also mit deutschen Fans – war zum Vergessen. Aus in der Gruppenphase.
2004 war auch nicht viel brillanter, brachte aber mit Griechenlands Trainer Otto Rehhagel einen statt elf Europameister hervor.
2008 war es in Wien, als Deutschland mit einem 0:1 gegen Spanien – immerhin ein honorabler Gegner - wieder Vize wurde.
2012 unterlag Deutschland im Halbfinale Italien mit 1:2. Wer einen Stein werfen will, werfe den ersten.
2016 gab es gegen den Gastgeber Frankreich im Halbfinale ein 0:2 in Marseille. Am Dienstag ist Deutschland in München (vor Zushauern) Gastgeber. Mal sehen, was es gegen den Weltmeister gibt.
Fazit : Bei 13 Teilnahmen drei Titelgewinne, drei Vize-Meisterschaften plus zwei Mal das Halbfinale erreicht. Die Europameisterschaft ist Pflicht und Bürde geworden. Bei drei Heimspielen in München in der Gruppenphase hängt nach dem Desaster bei der WM in Russland auch das endgültige Urteil über Joachim Löw als Bundestrainer – trotz WM-Titel 2014 – von dem Ausgang dieser EM ab. Er muss ein besseres Bild abgeben als sein derzeit desolater Arbeitgeber, der DFB. Trotz alledem.
Rainer Kalb