Wir müssen es ehrlich zugeben: Wir leben in einem Schlaraffenland. Gut, wir können auf ARD und ZDF nur 41 der 51 EM-Spiele live sehen; die anderen zehn versendet exklusiv Magenta TV. Aber mal ehrlich: Ob unsereins nun das 1:1 zwischen der Schweiz und Wales und Schottlands 0:2 gegen Tschechien live gesehen hat oder nicht – davon geht die Welt nicht unter, oder? Wie viel die Öffentlich-Rechtlichen an Magenta bezahlt haben, ist unbekannt. Jedenfalls haben sie Johannes Baptist Kerner, Fredi Bobic und Michael Ballack an die Türkisfarbenen ausgeliehen. Riecht nach Gegengeschäft.
Schlimmer sind jedenfalls die Franzosen dran. Die können im Free-TV in der Gruppenphase in der Regel nur ein Spiel täglich sehen. Meist das um 21 Uhr. Am Donnerstag aber gar keins. (Wäre der Logik nach Italien – Schweiz, also das Duell zweier Nachbarländer der Grande Nation). Dafür hat der Rechteinhaber für Samstag großzügig sowohl Ungarn – Frankreich (15h) als auch Portugal – Deutschland (18h) für TF1 und M6 freigegeben. Wobei: Wie in Deutschland müssen in Frankreich bei einer Fußball-WM oder-EM alle Eröffnungsspiele, Endspiele und der jeweiligen Spiele der „eigenen“ Nationalmannschaft verpflichtend im frei zugänglichen Fernsehen ausgestrahlt werden (oder überhaupt nicht). Das war vor Jahren, als noch niemand an Streaming-Dienste dachte, eine der weisesten sport- und medienpolitischen Entscheidungen.
Die Europameisterschaft ist wie ein vierwöchiger Feiertag. Bundesliga und League 1 sind zehn Monate lang Alltag. Und auch da leben die Bundesliga-Fans wie Alice im Wunderland. Zugegeben, im frei empfangbaren Fernsehen sind live zwar nur zwei Spiele von den 306 zu sehen (Auftaktspiel Hin- und Rückrunde). Für den Rest heißt es Zahlemann und Söhne – bei SKY oder DAZN. Aber immerhin gibt es noch die doch sehr zeitnahen Zusammenfassungen in der ARD und die Analysen später, aber meistens noch am gleichen Tag, im ZDF.
Ligafußball in Frankreich gibt es für den Fan schon seit Jahren nicht mehr im Free TV. Alles läuft im Bezahlfernsehen – seit 1984 bei Canal plus, später auch teilweise bei beInSPORTS. Der katarische Sender, dessen Direktor der Präsident von Paris St. Germain ist – der Hauptstadtklub gehört auch Katar – hat übrigens, wie Magenta Sport, die gesamten EM-Übertragungsrechte gekauft und vertitscht nun die Unter-Lizensierungsrechte an die frei empfangbaren Sender. In Frankreich offensichtlich mit weniger Appetit auf happige Refinanzierung als in Deutschland.
In der Liga allerdings haben die beiden Platzhirsche in der kommenden Saison das Nachsehen. Amazon, ursprünglich nur ein Buchversender, hat ihnen die Rechte weggeschnappt. Der Internet-Riese zeigt ab der neuen Saison acht von zehn Spielen pro Spieltag. Canal plus ist eingeschnappt und will auf die Ausstrahlung der beiden restlichen Spiele – trotz der entstandenen Rechtekosten – verzichten. Der französische Fußball-Fan muss innerhalb von drei Jahren schon das fünfte Abo abschließen/kündigen. Um den Fußball auf dem Bildschirm zu sehen und nicht nur am Computer, sind die notwendigen Decoder kaum noch zu sehen. Der Fußball ist – gerade nach den Corona-bedingten Stadionsperren – dabei, sich als Volkssport abzuschaffen.
Rainer Kalb